Geschichten aus dem Dienstleben

Die Bewachung eines Kilometersteines

Ab dem 13. August 1961, dem Tag des sog. "Mauerbaues", herrschte monatelang volle und später erhöhte Gefechtsbereitschaft in der NVA. Ende September oder Anfang Oktober, der Herbst kündigte sich schon an, sollte ich mit einem NVA-Motorrad mit NVA-Kennzeichen von Pinnow bei Angermünde nach Burg Stargard bei Neubrandenburg eine Dienstfahrt unternehmen. Ausgerüstet mit dem Kampfanzug, Stiefeln, Motorradhelm und einer Kartentasche mit Handtuch, Seife, Zahnbürste und Zahnpasta brauste ich also los.

Die etwa 100 Kilometer lange Strecke sollte über Prenzlau - Woldegk die B198 entlang führen. Ich passierte gegen Mittag die Ortschaft Dedelow und am Kilometerstein 89,4 ging die Karre plötzlich aus und war nicht mehr zu bewegen, wieder anzuspringen. Die Ursache bei dem Militärtyp der MZ-250 war in der Regel, dass der Vorwiderstand zur Lichtmaschine durchbrannte. Wenn man über Beziehungen verfügte, hatte man sich so ein Ersatzteil "ergattert" und in der Jackentasche. Nun brauchte man noch Werkzeug, welches in einem verschließbaren Fach unter dem Sitz gelagert ist. Und nun zweites Pech: der mitgegebene Schlüssel passte nicht. Was nun?

Man muss wissen und ich wusste das, weil ich die Strecke öfters fuhr, dass zwischen Dedelow und dem nächsten Dorf Wolfshagen knapp 13 Kilometer "das große Nichts" ist und es dort auch keine Füchse gibt, weil sich nie zwei davon zum Gute-Nacht-Sagen treffen können. Irgendwelche Fortbewegungsmittel waren zur damaligen Zeit auch nicht anzutreffen und für die, die die Story heute lesen: Handys gab es damals nicht, die waren noch nicht erfunden.

Während der Gefechtsbereitschaft ein Militärmotorrad auf offener Straße stehen lassen? Das einzige Haus an der Straße hatte kein Telefon. Fern am Horizont war etwas zu bemerken, was nach Ansiedlung aussah - 5 Kilometer zu laufen und auf Verdacht? Ich hatte Glück - es war ein etwas größerer Kuhstall mit Telefonanschluss - ich konnte meinen Vorgesetzten anrufen und diktierte ihm:
- auf dem Weg von Pinnow über Prenzlau und Woldegk nach Burg Stargard
- zwischen den Ortschaften Dedelow und Wolfshagen
- am Kilometerstein 89,4.

Dann 5 Kilometer zurücklaufen - das Krad stand noch da - und: warten. Es wurde später Nachmittag - es wurde langsam dunkel und kälter - es ließ sich keine Rettungsexpedition sehen. Nochmal zum LPG-Kuhstall mit Telefonanschluß. Natürlich war der Vorgesetzte nicht mehr im Dienst, also diktierte ich dem OvD (Offizier vom Dienst) die Angaben in das Dienstbuch mit der Bitte, den Vorgesetzten zu informieren. Zurück - das Krad stand noch da - sternklare Nacht - es wurde noch kälter und die Müdigkeit kam. Etwa 100 Meter jenseits der Straße gab es auf dem Feld eine Strohmiete. Bietet die etwas "Gemütlichkeit"? Kriege ich dort überhaupt mit, wenn doch die Rettung auf der Straße naht? Also reingewühlt. Nach kurzer Zeit "..psss.. - ..pss.. - wisper - wisper" - Mäuse!! Manche krochen in die Ärmel und Hosenbeine. Ein Tierchen lief auch über das Gesicht. Bei der Mäuseabwehr war an einen Schlaf nicht zu denken. Handtuch hervorgekramt - den Kopf eingepackt. Was macht eines der Mistviecher? Krabbelt durch eine Lücke in mein Handtuch und spurtet um den Hals herum.

Endlich erwachte der sonnige Morgen - das Fahrzeug stand noch da - anscheinend keine Abholung in der Nacht eingetroffen. Wieder zu "meinen Kühen" und den Vorgesetzten telefonisch erwischt. Der schnurrte mich an, weil ich mich nicht aus dem Zielobjekt Burg Stargard gemeldet hatte. Dann fiel ihm ein, dass ich ja am Nachmittag des Vortages angerufen hatte - kleinlaut gestand er: er hatte das "vergessen" und damit natürlich keine Abholung organisiert.

Gegen Mittag kam dann der KfZ-Schirrmeister aus Burg Stargard mit einem Fahrzeug, was man nach heutigen Begriffen als "PickUp" bezeichnen würde. Das Krad passte mit Not drauf. Nach 22 Stunden auf offener Landstraße und etwa 30 Kilometer Fußmärschen war also die Aktion der "Bewachung eines Kilometersteines" beendet. Das Motorrad habe ich nie wieder angeguckt - was daraus geworden ist, habe ich nie erfahren. Jedesmal, wenn ich die Strecke fuhr oder gefahren wurde, hielt ich an "meinem Kilometerstein" an zu einer "Gedenkminute" - die Kraftfahrer wussten das dann schon und stoppten selbständig.

Ganz so schlimm, wie im Gedicht von
CHRISTIAN MORGENSTERN war's jedoch auch nicht:
(Ausschnitt)
Ein Rabe saß auf einem Meilenstein
und rief Ka-em-zwei-ein, Ka-em-zwei-ein...
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Zwei Hasen brachten ihn zum Kräuterdachs.
Sein Hirn war ganz verstört und weich wie Wachs.
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